So viel zur Theorie, rein praktisch gesprochen bedeutet das folgendes:
Morgens halb zehn in Deutschland. Heute gibt es um diese Uhrzeit nicht das zweite Schokoladenfrühstückchen, es ist Zeit im Standesamt eine Wartemarke zu ziehen. Nach endlosen Minuten ist es dann so weit – man wird vorgelassen, um eine beglaubigte Abschrift der eigenen Geburtsurkunde zu ergattern.
In meiner Vorstellung notiert die junge Dame am Schalter meinen Namen und das Geburtsdatum, um anschließend mit drei Mausklicks den gewünschten Ausdruck aus dem surrenden Drucker zu ziehen. Nur noch ein Stempel und die finale Unterschrift – é voila.
Nun heißt es aber Kopfkino aus – denn die Realität könnte weiter entfernt nicht liegen.
Zwar notiert die Dame in rot am Schalter ebenso meinen Namen, Geburtsdatum und Ort. Doch was dann folgt, hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht ausmalen können. Mechanische Hebel werden bedient, riesige Regale bewegen sich ächzend – zentnerdicke, vergilbte Schinken erblicken das Licht der Welt. Mit ein bisschen Geschick beim blättern findet mich Frau Rot zwar recht schnell. Es folgt aber eine Odyssee durch den Verwaltungsbau zur nächstgelegenen Kasse. Zwei Stockwerke tiefer und 60 Türen weiter bin ich fündig geworden, natürlich erst nach zwei Extrafleißrunden im Verwaltungslabyrinth. Und das, obwohl ich der deutschen Sprache mächtig, im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte und nicht gehbehindert bin. Zurück an der Türe der Sachbearbeiterin angekommen will ich mich schnurstracks hineinbegeben, immerhin geht es nur noch darum, die besagte Urkunde gegen Vorlage der Kassenquittung entgegenzunehmen. Noch im Inbegriff die Türklinke herunterzudrücken, zischen mir vernichtende Verwünschungen hinterher, da sich die wartende Bevölkerung übergangen fühlt – sie hätten ja schließlich auch eine Wartemarke gezogen.
Selbst wenn ich die besagte Urkunde online hätte anfordern können, die schweren Hebel hätten bedient werden müssen. Was, wenn ein großes Feuer ausbricht? Zwar leben wir nicht in einem Erdbebengebiet und ich bin sicher, dass Kopien an gesondertem Ort existieren. Doch diese Bücherschinken wirken derart fragil und vergänglich, dass ich sie vor meinem geistigen Auge schon in Flammen aufgehen sehe. Ich lebe in dem Bewusstsein, dass meine persönlichen Dokumente und Bilder entweder in der Cloud oder zumindest auf einer externen Festplatte zweitgesichert sind. In Zeiten der Digitalisierung vergisst man als technikaffiner Bürger schnell, dass Angela Merkel mit ihrer „Digitalen Agenda 2014- 2017“ vor schier unüberwindbaren Herausforderungen steht. Deutschland soll wettbewerbsfähig bleiben, flächendeckende Hochgeschwindigkeitsnetze bekommen und die Digitalisierung so sicher gestalten, dass der gemeine Bürger keine Antipathien hegt. Mit den nötigen Finanzspritzen lassen sich zwar kostspielige Projekte wie der Glasfaserkabelausbau vorantreiben. Doch das heiß noch lange nicht, dass alle Bürger cloudbegeistert und digitalisierungskonform sind. Hier muss noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden. Die Angst ist groß, dass eine voranschreitende Digitalisierung zu einem Arbeitsplatzschwund führt. Was, wenn Maschinen und Algorithmen meinen Arbeitsplatz wegrationalisieren? Schon zu Zeiten der Industrialisierung ging das Schreckgespenst der drohenden Sinnentleerung angesehener Berufe und eines Abschwungs am Arbeitsmarkt um. Viele sehen aber nicht die immense Chance, die eine voranschreitende Digitalisierung bietet. Das Zauberwort lautet „Work-Life-Balance“. Wenn mir Apps, Algorithmen und Softwareprogramme Arbeit abnehmen, kann ich produktiver, schneller und effizienter arbeiten. Gerade administrative und operative – sprich schnell lästige Tätigkeiten könnten sich wie von Zauberhand erledigen. Nun ist der gedankliche Schritt zu einer Verbesserung der Work-Life-Balance nicht mehr fern. Auch der sechs-Stunden Arbeitstag ist in diesem Zusammenhang im Gespräch. Viele skandinavische Länder sind uns in diesem Punkt einen Schritt voraus, mit Ergebnissen die sich sehen lassen können. Schon jetzt ist klar, dass Menschen mit einer guten Work-Life-Balance konzentrierter und produktiver arbeiten, die Häufigkeit von Krankschreibungen geht deutlich zurück. Eine voranschreitende Digitalisierung mit mehr zeitlichen Ressourcen kann genau an diesem Punkt einhaken.
Wir wissen nicht, was exakt in den nächsten Jahrzehnten auf uns zukommt. Vielleicht wird alles noch schneller und ich würde mir wünschen, dass Hebel und Hydraulik mein angefordertes Dokument im Standesamt ans Tageslicht befördern – ganz anders als der schnelle Mausklick. Vielleicht können künftige Generationen dieses umständliche Prozedere genauso wenig fassen, wie ich die Geschichten meiner Großeltern über eine Toilette ohne fließendes Wasser. In jedem Fall kann sich niemand einer bereits stattfindenden Digitalisierung verschließen, wir bleiben gespannt.